Weihnachten steht vor der Tür!
Weihnachten – Zeit der guten Düfte und der Besinnlichkeit, möchte man meinen, und jedes Jahr wird die Zeit noch etwas hektischer. Diese Geschichte soll etwas Abstand zur hektischen Zeit bringen und dem Leser ein Schmunzeln ins Gesicht zaubern.
Als ich Herbst 2012 von St. Jean Pied de Port nach Santiago de Compostela gegangen bin, durfte ich am Weg an einigen Mandelbäumen entlanggehen. Die Zeit war gerade richtig um die reifen Früchte zu pflücken. Wer einmal die Gelegenheit hat, eine frische Mandel direkt vom Baum zu kosten, sollte sich das nicht entgehen lassen. Das ist einfach purer Genuss! Im Mittelpunkt meiner Adventzeit steht für mich heuer die Mandel, genauer gesagt, die Glücksmandel. Und auf der Suche nach der solchen bin ich über nachfolgende Geschichte von Heidi Sturm-Norén gestolpert. Viel Spaß beim Lesen und beim Wünschen.
Die Weihnachtsfrau oder Wie die Emanzipation bis zum Korvatunturi kam
Am Korvatunturi, dem Hausberg des Weihnachtsmannes, herrschte emsiges Treiben:
Es war nur noch ein Tag bis Weihnachten, und eine Menge Geschenke mussten noch fertig gestellt werden, die Routen des Weihnachtsmannes am Heiligen Abend geplant werden und der Schlitten musste noch gewartet werden, damit alles am 24.12. reibungslos funktionieren würde. Auch die allerletzten Wunschzettel mussten noch durchgelesen und geordnet werden, und natürlich mussten die Wichtel ihre Notizen durchschauen, ob die Kinder auch brav gewesen waren. Kurz gesagt, alle waren beschäftigt.
„Wo ist denn meine rote Zipfelmütze?“ rief einer der Wichtel, „ich kann sie nirgends finden“, und er stampfte verärgert mit seinem Fuß.
„Ich brauche neue Socken“, meinte ein Anderer, „Mama Weihnachtsfrau, hast du sie schon fertig gestrickt?“
„Und meine Jacke, ist sie gewaschen?“ wollte der Dritte wissen.
„Was ist mit dem Milchreis, darf ich schon kosten?“ piepste ein kleiner Wichtel und steckte seinen Finger in den heißen Brei. „Auaaa, es brennt“ weinte er dann, und die Weihnachtsfrau kam aus der Speisekammer gelaufen, wo sie die Zutaten für die Jause für die Wichtel gerade geholt hatte.
„Die Jacke hängt noch auf der Wäscheleine“, sagte sie und hielt den Finger des kleinen Wichtels in einen Becher mit Schnee, um ihn abzukühlen, „die Zipfelmütze liegt in der Garderobe auf der Hutablage und die neuen Socken sind in der großen Kiste, wo ich alle neuen Socken aufbewahre“, antwortete sie ruhig und wischte gleichzeitig dem kleinen Wichtel die Tränen von den Wangen. „und der Milchreis ist in zehn Minuten fertig, ich muss nur noch die Glücksmandel hinein geben.“ Sie seufzte und machte sich wieder an die Arbeit.
„Was ist mit der Glücksmandel, bringt sie wirklich Glück?“ fragte der kleine Wichtel, der inzwischen seine Nase geputzt hatte.
„Na mein Kleiner, es ist so: wer die Glücksmandel in seinem Brei entdeckt, kann sich etwas wünschen, und es geht in den nächsten Tagen in Erfüllung“, erklärte die Weihnachtsfrau.
„Darf ich sie haben, darf ich?“ rief der kleine Wichtel aufgeregt.
„In dem ganzen Topf befindet sich nur eine Mandel, die eine Zauberkraft hat, und der Zufall entscheidet, wer sie bekommt“, antwortete die Weihnachtsfrau. „Jetzt lauf und hol den Weihnachtsmann, damit wir essen können!“
Die Weihnachtsfrau würzte den Milchreis mit Zimt und streute Zucker darauf, dann trug sie den großen Topf zu einem langen Holztisch. Sie holte einen großen Stapel Teller und Löffel und läutete mit der Glocke, damit alle mit der Arbeit aufhörten und zum Tisch kamen.
Liesel, ein Wichtelmädchen, wollte den Brei austeilen, und müde setzte sich die Weihnachtsfrau auf ihrem Platz an einem Ende des Tafels. Der Weihnachtsmann, der ihr gegenüber saß, mahnte die Wichtel ruhig zu sitzen, und Liesel füllte einen Teller nach dem anderen. Schließlich hatten alle ihr Essen bekommen, und der Weihnachtsmann sprach ein Tischgebet. Dann begannen alle mit großem Appetit ihren Brei zu löffeln.
„Wer hat die Mandel, wer hat die Mandel?“ flüsterten sie und sahen einander an, als die Teller leer wurden, aber kein Wichtel konnte die Mandel in seinem Brei entdecken.
„Hast du vergessen, die Mandel in den Brei zu geben?“ wollte auch der Weihnachtsmann Stirn runzelnd wissen. Aber die Weihnachtsfrau schüttelte nachdenklich ihren Kopf. Sie hatte zu ihrer großen Überraschung zum ersten Mal in ihrem Leben die Zaubermandel bekommen, und überlegte nun fieberhaft, was sie sich wünschen sollte, um die Zauberkraft möglichst vernünftig und gerecht auch für alle Anderen auszunutzen.
Sollte sie sich wünschen, dass alle neue Socken bekommen würden?
Aber dann hätte sie im Sommer keine Arbeit!
Sollte sie sich wünschen, dass die Wäsche sauber und gebügelt wäre?
Nein, sie machte ihre Arbeit ja gerne, und die letzten Jacken waren bereits auf der Wäscheleine.
Vielleicht sollte sie sich ein gutes Weihnachtsmahl wünschen?
Nein, heuer hatte Liesel ihr doch helfen wollen, und sie würde traurig sein, wenn sie nicht kochen und backen dürfte.
Vielleicht sollte sie für den Weihnachtsmann mehr Hilfe für den Heiligen Abend wünschen? Er musste doch immer in so viele Häuser fahren, bergeweise Päckchen abliefern. Wie schön es sein müsste, die leuchtenden Kinderaugen zu sehen, wenn sie ihre Geschenke auspackten!
Wie schön es wäre, einmal die festlich geschmückten Häuser zu betreten, und den Duft von Zimt und Vanille zu spüren!
Wie schön es wäre, einmal die Geschenke austeilen zu dürfen, und nicht immer nur zu Hause zu sitzen und dafür sorgen, dass im Hintergrund alles glatt lief! Wie schön es wäre, einmal etwas Anerkennung für ihre Arbeit zu erhalten, nicht für selbstverständlich genommen zu werden! Und ehe sie sich bremsen konnte, schluckte die Weihnachtsfrau die Mandel herunter und wünschte sich, sie dürfte einmal den Weihnachtsmann vertreten und die Geschenke austeilen!
Was würde denn der Weihnachtsmann sagen – er hatte doch seit Menschengedenken diese Arbeit alleine gemacht, noch nie war ein Mädchen geschweige denn die Weihnachtsfrau dabei gewesen! Aber warum eigentlich?
„Was ist nun mit der Mandel?“ wollten alle wissen.
„Ich habe sie“, antwortete die Weihnachtsfrau errötend.
„Und, hast du dir schon etwas gewünscht?“, schmunzelte der Weihnachtsmann.
„Vielleicht eine neue Waschmaschine? Oder Wolle zum Stricken? Oder möchtest du gar einen Geschirrspüler?“ fragte er etwas herablassend.
„Nein, ich habe etwas ganz anderes gewünscht“, sagte sie leise, immer noch mit glühenden Wangen.
„Aber nicht noch ein kleines Wichtelchen?“ fragte der Weihnachtsmann lächelnd. „Dafür sind wir schon ein bisschen zu alt, meinst du nicht auch?“
„Ich habe mir kein Wichtel-Baby gewünscht, auch keine Waschmaschine und keinen Geschirrspüler“, antwortete die Weihnachtsfrau etwas verärgert. Der Weihnachtsmann kannte zwar die Wünsche aller Kinder und erfüllte sie jedes Jahr so gut wie möglich, hatte aber noch nie daran gedacht, dass auch sie sich nach etwas sehnen könnte! Er kam nicht auf die Idee, dass es ihr nach all den Weihnachten allein zuhause schlicht und einfach langweilig war!
Sie wollte auch mal hinaus in die Welt, sie wollte auch mal dem Alltagstrott entfliehen! Plötzlich hörte sie sich mit fester Stimme sagen:
„Heuer werde ich die Geschenke austeilen“.
Schlagartig wurde es still in dem Raum, mit offenen Mündern starrten alle sie an.
Dann brach der Weihnachtsmann in ein schallendes Gelächter. Er schlug sich auf die Knie und lachte: „Hah hah haa, hoh hoh hoo! Fast wäre es dir gelungen, mich zu erschrecken! Was für ein Witz! Hoh hoh hoo!“
Die Wichtel sahen erst verunsichert von einem zum anderen, dann begannen auch sie zu kichern, bis schließlich die ganze Stube vom Gelächter gefüllt war.
Aber die Weihnachtsfrau war zutiefst beleidigt, sie stand abrupt auf und wischte ihre Augenwinkel in dem Zipfel ihrer Schürze. Sie ging hinaus und lief in ihr Kammer, sperrte die Tür zu und setzte sich auf die Bettkante. Sie fühlte sich mutlos und müde, sie musste den Spott der anderen ertragen, und würde natürlich, wie jedes Jahr zu Weihnachten, mit den Wichtel-Mädchen in der Stube sitzen und Socken stopfen, während die Wichtel-Buben mit dem Weihnachtsmann unterwegs waren.
Da klopfte es an der Tür und sie hörte Liesels Stimme:
„Mama Weihnachtsfrau, bitte mach auf“, Liesel klopfte nochmals.
Die Weihnachtsfrau sperrte die Tür auf und Liesel schlüpfte hinein.
„Mama Weihnachtsfrau, ich habe darüber nachgedacht, was du gesagt hast. Warum ist es eigentlich so, dass immer nur der Weihnachtsmann und die Jungs die Geschenke austeilen dürfen – es wäre wirklich Zeit, dass wir Mädchen auch mit dürfen. Schließlich kennen wir die Routen und die Kinder mindestens so gut wie sie, und schneller sind wir auch!“
Aber die Weihnachtsfrau schüttelte traurig ihren Kopf.
„Nein, mein Kind, es geht nicht. Es ist Tradition, dass nur Männer diese Arbeit machen, wir können den Lauf der Welt nicht plötzlich ändern.“
„Aber draußen in der Welt ändert sich das Leben ja auch. Frauen sind heute in allen Positionen zu finden, sie lassen sich nicht mehr an den Herd verbannen“, argumentierte Liesel, „warum müssen wir denn immer noch wie im Mittelalter den Männern den Vortritt lassen!“ Zornig lief sie hinaus und knallte die Tür hinter sich zu.
Die Weihnachtsfrau war müde und traurig, sie ging ins Bett und schlief sofort ein.
Im Traum begegnete sie dem Weihnachtsengel.
Dieser sagte:
„Hallo Weihnachtsfrau! Ich freue mich zu hören, dass du heuer die Geschenke austeilst.“
„Oh, nein, das geht doch nicht“, antwortete sie, „der Weihnachtsmann wird auch diesmal alles erledigen. Ich werde zuhause sitzen und dafür sorgen, dass ein warmer Tee auf ihn wartet, wenn er heimkehrt.“
„Nein, das wirst du diesmal nicht“ sagte der Engel bestimmt, „Schau mal in deinem Schrank nach, dort hängt schon dein Gewand, und alle Kinder der Welt warten auf dich!“
Als die Weihnachtsfrau aufwachte, war es Zeit, Frühstück für alle Wichtel zu machen, die Betten aufschütteln, den Kleinen beim Anziehen helfen, und anzufangen, Mittagessen zu kochen, und so vergaß sie ihren Traum. Der Tag verlief hektisch, niemand redete mehr über ihren unsinnigen und unerhörten Wunsch, und sie bereiteten alles für die kommende Nacht vor. Der Weihnachtsmann überwachte selber draußen im Hof das Beladen der Schlitten. Es war kalt, der Atem fror zu weißem Nebel und sein Bart war von Raureif bedeckt. Ein Wichtel lief mit einem Beutel bei ihm vorbei, und einige Nüsse fielen aus dem Sack direkt vor die Füße des Weihnachtsmannes. Dieser sammelte sie auf und aß eine davon, den Rest schenkte er den Wichtelbuben, die mit ihm in der Nacht mitfahren würden.
Schließlich war auch der letzte Schlitten fertig, randvoll geladen mit Säcken, die bis zum Bersten voll mit Geschenke waren. Es gab große Geschenke und kleine Geschenke, weiche Päckchen und harte Päckchen, bunte und einfarbige, welche mit Maschen und welche mit Bändern verziert. Päckchen, die klapperten, und Päckchen, die klirrten, wenn man sie schüttelte, es gab welche, die nach Honig und Gewürzen dufteten, und andere, die nach Rosen und Lavendel rochen. Schlitten um Schlitten reihten sie aneinander, gezogen von unzähligen Rentieren, die schon ungeduldig auf die große Fahrt warteten.
Aber der Weihnachtsmann war noch nicht fertig.
„Wartet einen Moment Wichtel, wartet! Ich muss noch, ich muss mal…“ und der Weihnachtsmann rannte Richtung Toilette davon. Eines nach dem anderen spürten es auch die Wichtel – es drehte und wand in ihren Mägen – sie alle hatten Durchfall!
„Du meine Güte, was um Himmels Willen machen wir jetzt“ jammerte der Weihnachtsmann hinter der Klotür, „So kann ich unmöglich hinausfahren! Und alle Kinder warten ja auf die Geschenke! Weihnachten ohne Geschenke, unmöglich! Was sollen wir nur tun?“
„Wie wäre es, wenn Mama fährt?“ rief Liesel fröhlich. „Mariechen, Katrinchen und Lottchen sind auch gesund, wir können sie begleiten!“
„Aber was sollen denn die Kinder denken, sie warten doch auf dem Weihnachtsmann!“ kam die gedämpfte Antwort hinter der Tür des stillen Örtchens.
„Dann warten sie eben diesmal auf die Weihnachtsfrau“ jubelte Liesel, und rannte in die Küche.
„Weihnachtsfrau, Weihnachtsfrau, komm schnell! Wir müssen sofort losfahren, um die Geschenke auszuteilen!“
„Das geht doch nicht, mein Kindchen, nie hat das eine Frau gemacht. Und ich hätte nicht mal was Passendes zum Anziehen“, zögerte die Weihnachtsfrau, ließ sich aber in ihr Kammer ziehen.
Sie öffnete ihren Schrank und wollte gerade nochmals ihren Kopf schütteln, als ihr Blick auf eine nagelneue rote Jacke und auf eine wunderschöne rote Zipfelmütze mit weißem Pelzrand fiel. Staunend nahm sie die Sachen heraus und probierte sie an – alles saß wie angegossen! Unten im Schrank lag eine hauchdünne, weiße Feder. Da erinnerte sie sich an ihrem Traum wieder, und Freude erfüllte ihr Herz.
„Wir werden wirklich fahren, wir werden dafür sorgen, dass die Kinder doch rechtzeitig zum Fest ihre Geschenke bekommen!“ rief sie aus und rannte hinaus, Liesel hinter ihr.
„Nimm noch die Liste vom Schreibtisch“ rief der Weihnachtsmann vom Klo, nun doch erleichtert, dass sie den Abend retten würde.
„Ich habe sie schon mit“ antwortete Liesel, „es kann losgehen!“
So kam es, dass an jenem Jahr die Rentiere erstmals Schlitten mit ausschließlich weiblichen Begleitern zogen, und da diese einiges leichter waren, als der Weihnachtsmann und die männlichen Wichtel, ging die Reise schnell dahin. Liesel und Mariechen sorgten dafür, dass die Route stimmte, Katrinchen und Lottchen richteten jeweils die richtigen Geschenke her, und die Weihnachtsfrau kletterte durch Kamine und verteilte die Päckchen. Als im Osten der Weihnachtstag zu dämmern begann, waren alle Schlitten leer und die Wichtelmädchen und die Weihnachtsfrau müde aber glücklich. So viele leuchtende Kinderaugen und dankbare Menschen hatten sie noch nie gesehen, und erschöpft und froh traten sie den Heimweg an.
Als sie am Korvatunturi anhielten und ausstiegen, fiel von dem ersten Schlitten noch ein kleines Päckchen heraus.
„Na nu, haben wir etwa ein Geschenk vergessen! Rief die Weihnachtsfrau erschrocken.
Liesel hob das Päckchen auf und drehte es in ihren Händen.
„Hier ist ein Kuvert dran, und darauf steht an die Weihnachtsfrau“ verkündete sie.
Liesel reichte das Geschenk an die Weihnachtsfrau und diese öffnete den Umschlag und las das Kärtchen was darin war, und steckte alles in ihre Manteltasche.
Lächelnd ging sie hinein, und die Wichtelmädchen sahen sich verwundert an.
„Was war denn das? Hat jemand von euch eine Ahnung, was in dem Päckchen ist?“ fragten sie sich, aber niemand wusste mehr davon.
Aber die Weihnachtsfrau nahm das Geschenk mit in ihre Kammer. Sie öffnete es vorsichtig, und entnahm ihm eine kleine Flasche. Sie schnupperte kurz daran, und musste leise lachen, sie erkannte sofort, was die dicke Flüssigkeit war – Rizinusöl!
Auf der Karte war kein Absender notiert, nur die Worte:
„Frohe Weihnachten – mit Hilfe dieser Zauberflasche kannst du ein anderes Mal auch den Weihnachtsmann vertreten…“
Sie steckte die Flasche mit der Karte wieder in das Päckchen und legte es auf dem obersten Regal ihres Schrankes.
Dort steht sie immer noch, es sei denn, die Weihnachtsfrau bekommt wieder mal Lust darauf, die Geschenke zu verteilen…
Frohe Weihnachten!
Und wer jetzt Lust bekommen hat auf Milchreis mit Glücksmandel, der klickt einfach drauf!